Frankreich – In Poitiers wurde die diesjährige Woche der Gehörlosen zu einem starken Symbol für Sichtbarkeit, Inklusion und Selbstbestimmung. Rund hundert Menschen zogen am 24. September 2025 durch die Straßen der französischen Stadt, um auf bestehende Barrieren, fehlende Sprachrechte und die mangelnde Anerkennung der Gebärdensprache aufmerksam zu machen.
Unterstützt wurde der Protest durch die Stadtverwaltung von Poitiers, die erstmals die „Fahne der Gehörlosen“ auf dem Rathaus hisste. Damit verband sich ein deutliches gesellschaftliches Signal: Gehörlose Menschen wollen nicht nur gesehen, sondern verstanden und ernst genommen werden.
Eine Stadt zeigt Solidarität
Mit dem Hissen der Gehörlosenfahne setzte Poitiers ein sichtbares Zeichen der Solidarität. Zum ersten Mal wehte an der Fassade des Rathauses der türkisblau-gelbe Drapeau Sourd – eine gelbe Hand auf einer blauen Handfläche. Dieses Symbol steht international für die Würde, Identität und Gemeinschaft gehörloser Menschen.
Die Bürgermeisterin Léonore Moncond’huy betonte, dass diese Geste mehr sei als ein einmaliger Akt:
„Wir können uns gut vorstellen, diese Fahne jedes Jahr während der Woche der Gehörlosen aufzuhängen – als dauerhaftes Zeichen der Anerkennung.“
Damit würdigte sie die aktive Deaf-Community von Poitiers, die seit Jahren durch Bildungs-, Kultur- und Sportprojekte sichtbar ist. Für viele Beteiligte war das Hissen der Fahne ein emotionaler Moment – ein Zeichen, dass Inklusion nicht nur aus Worten, sondern aus sichtbaren Handlungen besteht.
Stimmen der Bewegung: Sprache als Menschenrecht
Im Mittelpunkt der Demonstration stand der Zugang zur Gebärdensprache. Aktivist Cédric Canonne formulierte es klar:
„Ohne Gebärdensprache gibt es keine Menschenrechte.“
Diese Botschaft wurde in Langue des Signes Française (LSF) gebärdet und auf Plakaten und Bannern sichtbar gemacht.
Die Teilnehmenden forderten:
- Bessere Bildungschancen für gehörlose Kinder durch bilinguale Schulmodelle (LSF und Französisch).
- Mehr Dolmetschdienste und Barrierefreiheit in Behörden, Krankenhäusern, Schulen und Medien.
- Gesellschaftliche Sensibilisierung für die Rechte und Bedürfnisse gehörloser Menschen.
Viele Eltern erinnerten daran, dass früher Zugang zur Gebärdensprache entscheidend ist. Kinder, die früh LSF lernen, entwickeln sich sprachlich, sozial und schulisch deutlich besser. Fehlende Sprachzugänge hingegen führen zu Bildungsdefiziten und Isolation, die im Erwachsenenalter schwer auszugleichen sind.
Eine Woche voller Begegnungen und Kultur
Die Woche der Gehörlosen in Poitiers ist Teil einer weltweiten Bewegung. Sie verbindet den Internationalen Tag der Gebärdensprachen (23. September) mit dem Welttag der Gehörlosen (27. September).
In der gesamten Woche fanden in Poitiers zahlreiche Veranstaltungen statt, die Austausch, Bildung und Kultur vereinten:
Film & Diskussion (25. September)
Das Kino TAP Castille lud zu einer Vorführung und anschließenden Debatte über die Darstellung von Gehörlosen im Film ein.
LSF-Soirée (26. September)
Das Îlot Tison wurde zum Treffpunkt für visuelles Theater, Poesie in Gebärdensprache und Musikvisualisierungen – ein Fest der visuellen Kultur.
Village Sourd (27. September)
Ein buntes Begegnungsdorf bot Workshops, Informationsstände und Gespräche über Barrierefreiheit, Inklusion und Deaf Culture.
Diese Veranstaltungen schufen Brücken zwischen gehörlosen und hörenden Menschen. Sie machten deutlich: Gehörlosigkeit ist keine Einschränkung, sondern Teil einer reichen, visuellen und lebendigen Kultur.
Bedeutung der Sichtbarkeit
Für viele Demonstrierende war der Marsch durch Poitiers ein Moment des Stolzes und der Selbstbestimmung. Sichtbarkeit bedeutet in diesem Kontext weit mehr als Medienpräsenz – sie steht für gesellschaftliche Anerkennung einer eigenen Kultur und Sprache.
Das Hissen der Fahne auf dem Rathaus war daher auch ein Signal an junge gehörlose Menschen: Eure Sprache und Identität sind wertvoll und werden respektiert.
Doch trotz solcher Zeichen bleibt viel zu tun. In Frankreich – wie in vielen anderen Ländern – wird die Gebärdensprache noch immer nicht gleichwertig behandelt. Schulen fehlen qualifizierte Lehrkräfte, in vielen Behörden gibt es keine Dolmetschdienste, und die Medienlandschaft bleibt überwiegend lautsprachlich geprägt.
Die Forderung der Demonstrierenden ist klar: Es braucht strukturelle Veränderungen, nicht nur symbolische Gesten.
Politische Bedeutung der Gebärdensprache
Die Gebärdensprache ist ein Menschenrecht, das international durch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) geschützt ist. Diese verpflichtet alle Staaten, die Gebärdensprache zu fördern, zu schützen und sichtbar zu machen.
Frankreich hat die Langue des Signes Française (LSF) zwar 2005 gesetzlich anerkannt, doch in der Praxis hapert es an der Umsetzung. Viele Bildungseinrichtungen bevorzugen weiterhin lautsprachliche Methoden, wodurch gehörlose Kinder kaum Zugang zu ihrer natürlichen Sprache haben.
Studien belegen, dass bilinguale Bildungsmodelle – also Unterricht in LSF und Französisch – bessere Ergebnisse bringen. Auch im Arbeitsleben fehlt es oft an Dolmetschdiensten und barrierefreier Kommunikation.
Die Aktivistinnen und Aktivisten von Poitiers fordern daher:
- eine verbindliche Umsetzung der UN-BRK,
- mehr staatliche Förderung von LSF-Unterricht,
- und eine stärkere Präsenz der Gebärdensprache in Medien, Politik und Kultur.
Tipps für mehr Barrierefreiheit und Inklusion
Die Woche der Gehörlosen war auch ein Aufruf zum Handeln – an Städte, Behörden und Bürger*innen gleichermaßen. Einige praxisnahe Empfehlungen:
Barrierefreie Information
Verwaltungen und öffentliche Einrichtungen sollten Inhalte auch in Gebärdensprache und einfacher Sprache anbieten.
Gebärdensprachkurse fördern
Kommunen können Einführungskurse für Interessierte und Mitarbeitende organisieren.
Dolmetschdienste sicherstellen
Bei Terminen, Veranstaltungen oder Notfällen müssen Dolmetscher*innen selbstverständlich verfügbar sein.
Deaf-Kultur sichtbar machen
Video-Dolmetschdienste, Untertitelungssoftware und KI-gestützte Tools können Kommunikationslücken schließen – wenn sie qualitativ hochwertig und zugänglich sind.
Fazit
Poitiers hat 2025 gezeigt, wie Inklusion sichtbar und lebendig werden kann, wenn Stadtverwaltung, Gesellschaft und Deaf-Community zusammenarbeiten.
Die Demonstration, die kulturellen Veranstaltungen und das Hissen der Gehörlosenfahne waren mehr als Symbolik – sie standen für eine neue Haltung: Respekt, Gleichberechtigung und sprachliche Vielfalt.
Doch der Weg ist noch nicht zu Ende. Der Zugang zur Gebärdensprache, zu Bildung und barrierefreier Kommunikation bleibt eine zentrale Aufgabe – in Frankreich und in ganz Europa.
Wenn Poitiers seine Ankündigung wahr macht und die Fahne künftig jedes Jahr hisst, könnte die Stadt zum Vorbild für gelebte Inklusion werden – und zeigen, dass Gebärdensprache keine Nische, sondern ein wesentlicher Teil menschlicher Kultur und Verständigung ist.

