Großbritanien – Eine neue Studie offenbart tiefgreifende Probleme im britischen Gesundheitssystem (NHS) im Umgang mit Tauben und schwerhörigen Menschen. Die Untersuchung, durchgeführt von der RNID (Royal National Institute for Deaf People) gemeinsam mit der Wohltätigkeitsorganisation SignHealth, kommt zu einem alarmierenden Ergebnis: Das NHS versagt routinemäßig darin, Tauben Patient*innen eine gleichberechtigte medizinische Versorgung zu ermöglichen. Fehlende Gebärdensprachdolmetscher, mangelndes Personaltraining und veraltete Kommunikationssysteme führen dazu, dass viele Betroffene ihre Diagnosen – darunter auch lebensbedrohliche – nicht verstehen. Die Folgen reichen von Angst und Verunsicherung bis hin zu lebensgefährlichen Situationen. Der Bericht wirft ein Schlaglicht auf eine strukturelle Diskriminierung, die im Jahr 2025 in einem modernen Gesundheitssystem nicht mehr existieren dürfte.
Taube Patient*innen verstehen ihre Diagnose nicht – mit teils tragischen Folgen
Laut der Erhebung unter mehr als 1.000 Tauben und schwerhörigen Menschen in England konnte etwa die Hälfte der befragten Gebärdensprachnutzer*innen ihre Diagnose oder die Informationen zu ihrer Behandlung nicht verstehen. Besonders erschreckend: Einige Betroffene wussten nicht einmal, dass sie eine tödliche Krankheit haben. Das lag nicht an medizinischen Fehlern – sondern daran, dass keine verständliche Kommunikation ermöglicht wurde.
Ein besonders tragischer Fall im Bericht beschreibt eine Frau, die während ihres Krankenhausaufenthalts nicht erfuhr, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hatte – weil kein Dolmetscher zur Verfügung stand. In einem anderen Fall erhielt ein Patient während eines stationären Aufenthalts weder Essen noch Trinken, da er die mündlichen Angebote des Personals nicht hören konnte.
Diese Vorfälle sind keine Einzelfälle, sondern Symptome eines strukturellen Versagens, wie der Bericht betont. Die Kommunikation im NHS ist vielfach nicht barrierefrei, obwohl dies gesetzlich vorgeschrieben ist.
Systematische Barrieren: Warum Taube dem NHS ausweichen
Die Studie zeigt zudem, dass fast 10 % der Befragten schon einmal darauf verzichtet haben, einen Krankenwagen zu rufen oder in die Notaufnahme zu gehen – aus Angst, nicht verstanden zu werden oder keine angemessene Hilfe zu bekommen. Ein Viertel der Befragten gab an, medizinische Hilfe bei neuen gesundheitlichen Problemen ganz zu vermeiden – aus demselben Grund.
Dr. Natasha Wilcock, eine Taube Palliativmedizinerin, berichtet aus eigener Erfahrung, wie Patient*innen nicht verstehen, dass sie sterbenskrank sind, weil niemand es ihnen in Gebärdensprache oder verständlich mitteilt. Statt in Würde Abschied nehmen zu können, bleiben sie in Unwissenheit zurück – ein menschenunwürdiger Zustand.
Ursachen: Fehlende Schulungen, Zeitdruck und veraltete IT
Pflegepersonal und Ärzt*innen im NHS berichten im Rahmen der Studie, dass es ihnen an Schulungen fehle, um barrierefreie Kommunikation umzusetzen. Der enorme Zeitdruck im Klinikalltag und schlechte IT-Systeme machen es zusätzlich schwer, Dolmetscher rechtzeitig zu organisieren oder passende Kommunikationsmittel einzusetzen.
Viele Gesundheitseinrichtungen sind zwar gesetzlich verpflichtet, Gebärdensprachdolmetscher und andere Kommunikationshilfen zur Verfügung zu stellen. Doch die Umsetzung scheitert oft an organisatorischem Versagen, fehlender Sensibilität und Budgetkürzungen. Das Ergebnis: Taube Menschen sind in lebenswichtigen Situationen auf Familienangehörige angewiesen, die übersetzen müssen – selbst bei Krebsdiagnosen oder schwerwiegenden medizinischen Entscheidungen.
Crystal Rolfe von der RNID formuliert es drastisch: „Stellen Sie sich vor, Sie erfahren von einem Familienmitglied, dass Sie Krebs haben – oder dass Ihre Therapie nicht mehr wirkt und Sie sterben werden. Für viele Taube in England ist das Realität. Das NHS diskriminiert sie systematisch.“
Forderungen: Schulung, gesetzliche Kontrolle und technische Modernisierung
Die RNID und SignHealth fordern dringende Maßnahmen. Dazu gehören verpflichtende Schulungen für medizinisches Personal im Umgang mit Tauben Menschen sowie eine gesetzlich besser kontrollierte Umsetzung der Barrierefreiheit im NHS. Auch die technische Infrastruktur muss dringend überholt werden, damit Patient*innen Informationen digital in Gebärdensprache oder barrierefreier Form erhalten können.
Louise Ansari von Healthwatch England mahnt: „Menschen mit sensorischen Einschränkungen warten seit Jahren darauf, dass das NHS ihren Kommunikationsbedürfnissen gerecht wird. Das ist nicht nur ein Organisationsproblem, sondern eine Frage der Gleichberechtigung.“
Reaktion des NHS: Entsetzen und Besserungsversprechen
Ein Sprecher des NHS reagierte mit deutlichen Worten: „Die geschilderten Erfahrungen sind schockierend und inakzeptabel. Alle NHS-Dienste haben eine gesetzliche Pflicht, geeignete Kommunikationsmittel zur Verfügung zu stellen – auch für Menschen mit Hörbehinderung.“
Man arbeite an der Umsetzung des sogenannten „Accessible Information Standard“, der sicherstellen soll, dass alle Patientinnen verständlich informiert werden. Ein neues Konzept für Patientinnensicherheit werde bald veröffentlicht, mit Fokus auf barrierefreie Kommunikation. Konkrete Schritte, wie diese Verbesserungen zeitnah in allen Einrichtungen ankommen sollen, wurden jedoch nicht genannt.
Fazit: Kommunikation ist kein Extra, sondern ein Grundrecht
Der Bericht zeigt schonungslos: Für Taube Menschen ist das britische Gesundheitssystem oft ein Ort der Unsicherheit, des Missverständnisses und der Isolation. Dabei sollte Kommunikation ein selbstverständlicher Bestandteil jeder medizinischen Versorgung sein – kein optionales Extra.
Taube Menschen haben das gleiche Recht auf medizinische Aufklärung, informierte Entscheidungen und würdevolle Behandlung wie hörende Patient*innen. Barrierefreiheit darf nicht vom Zufall abhängen, sondern muss flächendeckend sichergestellt sein – durch Schulung, Technik, klare gesetzliche Vorgaben und Sensibilisierung aller Mitarbeitenden im Gesundheitswesen.
Tipps für Taube Menschen im Umgang mit dem NHS:
- Im Voraus informieren: Möglichst schon bei der Terminvereinbarung angeben, dass ein Gebärdensprachdolmetscher benötigt wird.
- Begleitperson mitnehmen: Wenn möglich, eine Vertrauensperson zur Unterstützung mitnehmen – insbesondere bei wichtigen Gesprächen.
- Eigene Unterlagen mitbringen: Vorher recherchieren und eigene medizinische Fragen aufschreiben oder in einfacher Sprache bereitlegen.
- Nachfassen: Nach wichtigen Terminen schriftlich um Zusammenfassungen bitten.
- Beschwerdewege nutzen: Sollte die Kommunikation unzureichend gewesen sein, kann eine Beschwerde beim Patientenservice oder über Organisationen wie Healthwatch eingereicht werden.
Der Bericht ist ein Weckruf – nicht nur für das NHS, sondern auch für Gesundheitssysteme weltweit. Gesundheit beginnt mit Verstehen – und dazu braucht es Sprache, Zugang und Respekt.
Bild von Respati auf Pixabay

