Mit einem einmaligen Schritt hat die Hamburgische Bürgerschaft am 16. Juli 2025 offiziell um Verzeihung gebeten: Für jahrzehntelanges Unrecht, das Taube Menschen – vor allem in Schulen – widerfahren ist. Die Wurzeln liegen im grundsätzlichen Verbot der Gebärdensprache, psychischer und physischer Gewalt gegen Schülerinnen und Schüler sowie den daraus resultierenden Bildungsmängeln und sozialen Folgen. Auf Initiative von SPD, Grünen, CDU und Linken beschloss das Parlament in großer Mehrheit eine Entschuldigung und ein Maßnahmenpaket für Aufarbeitung, Entschädigung und künftige Unterstützung.
Warum die Entschuldigung nötig war
Verbot der Gebärdensprache
Bis weit in die 1990er-Jahre hinein durften Taube Kinder an Hamburger Schulen nicht in ihrer natürlichen Sprache kommunizieren. Die Gebärdensprache war tabu – stattdessen sollten sie Lautsprache nutzen. Das führte nicht nur zu Verständnisschwierigkeiten, sondern auch zu Ausgrenzung: Unterrichtsinhalte blieben unklar, Gespräche mit Lehrkräften und Mitschülern häufig unmöglich.
Gewalt als Durchsetzungsmittel
Wo Worte fehlten, setzte man auf Strafe: Taube Schüler berichteten von psychischen Demütigungen, körperlichen Züchtigungen und dem Beschämen vor der Klasse. Betroffene beschreiben Traumafolgen, Scham und das Gefühl, minderwertig zu sein. Diese Erfahrungen belasteten ihr Selbstwertgefühl und prägen ihr Leben bis heute.
Langfristige Folgen
Die Kombination aus fehlender Sprachförderung und Gewalt führte zu massiven Bildungsdefiziten. Viele Betroffene konnten keine höhere Schule besuchen, fanden schlechtere Ausbildungen und hatten geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Sprachlosigkeit und Isolation schränkten ihr soziales Leben ein – bis ins Erwachsenenalter.
Warum kommt die Entschuldigung erst jetzt?
Viele Betroffene, Aktivist:innen und Fachleute fragen sich: Warum erst jetzt, im 21. Jahrhundert? Warum hat es so lange gedauert? Die Antwort ist vielschichtig:
- Mangelnde gesellschaftliche Aufmerksamkeit: Jahrzehntelang wurde das Leid Taube Menschen nicht gehört – im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre Stimmen fanden kaum Raum in der Öffentlichkeit, ihre Perspektiven galten nicht als wichtig genug.
- Fehlende politische Priorität: Auch in der Politik galt Inklusion lange als Randthema. Erst mit dem Druck von Betroffenen, Medien, Fachverbänden und der UN-Behindertenrechtskonvention kam Bewegung in die Debatte.
- Scham und Schweigen: Viele Betroffene schwiegen aus Scham oder weil sie nie gelernt hatten, offen über ihre Erfahrungen zu sprechen. Erst in den letzten Jahren wurde der Austausch unter Taube Menschen stärker, mutiger und politischer.
- Zeit für Aufarbeitung: Die gesellschaftliche Reife und Offenheit für selbstkritische Rückblicke – wie z. B. bei anderen Themen wie Heimerziehung oder Zwangsarbeit – zeigt sich oft erst Jahrzehnte später.
Die Entschuldigung ist also nicht selbstverständlich, sondern das Ergebnis von langer Geduld, zähem Engagement und öffentlichem Druck. Für viele Betroffene kommt sie zu spät. Dennoch ist sie ein notwendiger Schritt – besser spät als nie.
Der Weg zur offiziellen Entschuldigung
Politisches Signal
Ein breites Bündnis aus SPD, Grünen, CDU und Linken brachte den interfraktionellen Antrag ein. Ohne Gegenstimmen dieser Fraktionen – lediglich die AfD enthielt sich – stimmte die Bürgerschaft zu. Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) betonte, dass Hamburg damit als erste deutsche Großstadt formell Verantwortung für strukturelle Gewalt übernehme.
Worte der Abgeordneten
- Kathrin Warnecke (Grüne): „Taube Menschen hatten kaum Möglichkeiten, sich auszudrücken und Kontakte zu knüpfen. Die Spuren dieses Unrechts begleiten sie ihr Leben lang.“
- Andreas Grutzeck (CDU): „Das jahrzehntelange Schweigen über systematische Ausgrenzung muss ein Ende haben. Die Wunden sitzen tief.“
- Regina Jäck (SPD): „Sprache ist Identität. Gute Bildung darf kein Privileg sein – sie wurde uns geraubt.“
- Thomas Meyer (Die Linke): „Es ist höchste Zeit, dass wir das Unrecht anerkennen und wirklich etwas ändern.“
Historischer Hintergrund
Die Hamburger Politik bewegte sich nicht isoliert: Weltweit setzte sich nach dem Kongress von Mailand 1880 eine Überbetonung der Lautsprache durch. Erst 2002 erkannte Deutschland die Deutsche Gebärdensprache als eigenständige Sprache an, seit 2009 gilt im Rahmen der UN-Behindertenrechtskonvention ein Recht auf Gebärdenunterricht.
Konkrete Beschlüsse und Zukunftsperspektiven
Entschädigungsfonds auf Bundesebene gefordert
Die Hamburgische Bürgerschaft fordert: Die Bundesregierung soll einen bundesweiten Entschädigungsfonds einrichten. Der Fonds soll Menschen entschädigen, die in Kindheit und Jugend durch das Verbot der Gebärdensprache und durch Misshandlungen schwer belastet wurden. Die Fraktionen fordern, dass nicht Hamburg allein, sondern alle Bundesländer gemeinsam Verantwortung übernehmen.
Dieser Vorschlag wurde von allen demokratischen Fraktionen in Hamburg unterstützt. Es ist jedoch noch unklar, ob und wann der Bund diesen Fonds tatsächlich umsetzt. Die Taube Gemeinschaft und viele Unterstützer:innen hoffen nun auf schnelle politische Entscheidungen auf Bundesebene.
Wissenschaftliche Aufarbeitung
Ein Forschungsgremium, das Deaf Studies und Betroffene gleichberechtigt einbindet, soll Ursachen und Folgen des Unrechts untersuchen. Ziel: Fakten schaffen und Lehren ziehen, damit sich Geschichte nicht wiederholt.
Bessere Unterstützung im Alltag
Leistungen der Eingliederungshilfe sollen für Taube Menschen Menschen leichter zugänglich werden. Barrieren bei Anträgen, Information und Kommunikation sollen abgebaut werden – etwa durch klare Formulare, Gebärden-Dolmetscher und digitale Hilfsangebote.
Berichtspflicht
Der Hamburger Senat legt bis Mitte 2026 einen Zwischenbericht vor, der den Fortschritt der Maßnahmen dokumentiert und weitere Schritte empfiehlt.
Tipps für Betroffene und Interessierte
- Anlaufstellen nutzen: Zahlreiche Vereine und Verbände bieten Beratung, Austausch und Unterstützung an – zum Beispiel der Landesverband der Gehörlosenverbände Hamburg.
- Recht auf Dolmetscher: Bei Behördengängen und Arztterminen können Sie Gebärdendolmetscher fordern. Erkundigen Sie sich nach Kostenübernahme durch Sozialträger.
- Bildungsangebote wahrnehmen: Volkshochschulen und spezialisierte Institute bieten Gebärdensprachkurse für Anfänger und Fortgeschrittene. Auch Online-Plattformen ermöglichen flexibles Lernen.
- Netzwerke stärken: Regionale und überregionale Selbsthilfegruppen bieten Plattformen für Erfahrungsaustausch und politische Partizipation.
- Auf dem Laufenden bleiben: Verfolgen Sie die Entwicklungen in Bürgerschaft und Senat: Zwischenberichte und öffentliche Sitzungen sind oft online zugänglich.
Fazit
Mit der offiziellen Entschuldigung setzt Hamburg ein starkes Zeichen: Es räumt Fehler der Vergangenheit ein, anerkennt das Leid zahlreicher Menschen und bindet Betroffene in die Aufarbeitung ein. Das Paket aus Entschädigung, Forschung und verbesserter Alltagshilfe zeigt, dass Politik nicht nur Worte, sondern Taten folgen lassen will. Entscheidend wird sein, wie konsequent die Maßnahmen umgesetzt und weiterentwickelt werden – damit Taube Menschen nicht nur symbolisch, sondern tatsächlich gleichberechtigt und barrierefrei leben können.
Konstantin Ryabitsev, CC BY-SA 2.0,

