Im Jahr 2025 erlebt die Medizin einen historischen Moment: Zum ersten Mal gelingt es, angeborene Gehörlosigkeit durch eine gezielte Gentherapie zu behandeln. Forscherinnen und Forscher weltweit – in Deutschland, Schweden, China, den USA und Großbritannien – konnten zeigen, dass genetisch taube Kinder nach einer einzigen Behandlung wieder hören können. Besonders die Erfolge aus der Universitätsklinik Tübingen haben große Aufmerksamkeit erregt. Doch was genau steckt hinter dieser bahnbrechenden Methode, wie funktioniert sie, und was bedeutet sie für die Gehörlosen-Community?
Wie die Gentherapie funktioniert
Bei vielen Menschen mit angeborener Taubheit liegt ein Defekt im OTOF-Gen vor. Dieses Gen ist für die Bildung eines Eiweißes namens Otoferlin verantwortlich. Otoferlin sorgt im Innenohr dafür, dass Schallsignale von den Haarzellen an den Hörnerv weitergegeben werden. Ist das Gen defekt, kann das Innenohr zwar Töne wahrnehmen, die Informationen erreichen aber das Gehirn nicht – das Ergebnis ist Gehörlosigkeit.
Die Gentherapie ersetzt dieses fehlerhafte Gen durch eine funktionierende Variante. Dafür wird ein künstlich hergestellter Virus (AAV) verwendet, der als Transportmittel dient. Dieser Virus ist harmlos und bringt die gesunde Genkopie in die Sinneszellen des Innenohrs. Dort beginnt die Zelle, das fehlende Eiweiß selbst zu produzieren – und die Signalübertragung funktioniert wieder.
Der Ablauf der Behandlung
Die Therapie wird durch eine einmalige Injektion in die Cochlea (Hörschnecke) durchgeführt. Über das sogenannte runde Fenster gelangt der AAV-Virus in das Innenohr. Der Eingriff dauert nur wenige Stunden und erfolgt meist unter Narkose. Danach bleibt das Kind oder der Patient für Beobachtungen in der Klinik.
Bereits nach wenigen Wochen beginnen viele behandelte Kinder, auf Geräusche zu reagieren. Die Ergebnisse werden mit Hörtests und EEG-Messungen überprüft, die zeigen, ob das Gehirn auf Schall reagiert.
Aktuelle Forschung und beeindruckende Ergebnisse
Die internationale CHORD-Studie, die von Regeneron Pharmaceuticals gemeinsam mit Universitäten in Tübingen, London, Madrid und den USA durchgeführt wird, zeigt erstaunliche Ergebnisse:
- 10 von 11 behandelten Kindern mit angeborener Gehörlosigkeit konnten nach wenigen Wochen wieder Geräusche wahrnehmen.
- In China und Schweden hörten Kinder und junge Erwachsene im Alter von 1 bis 24 Jahren nach nur einer Injektion erstmals Sprache und Alltagsgeräusche.
- Nach vier bis sechs Wochen trat bei den meisten eine deutliche Hörverbesserung ein, und nach etwa sechs Monaten reagierten viele auf gesprochene Worte.
In Deutschland wurde der erste erfolgreiche Eingriff im April 2025 an der Universitätsklinik Tübingen durchgeführt. Prof. Hubert Löwenheim bezeichnete diesen Moment als den Beginn einer neuen Ära – der „molekularen Otologie“, in der Taubheit auf genetischer Ebene behandelt werden kann.
Grenzen und Herausforderungen
So groß die Erfolge auch sind – die Gentherapie kann nicht alle Formen von Gehörlosigkeit heilen. Sie wirkt nur dann, wenn die Ursache ein bestimmter genetischer Defekt ist, etwa im OTOF-Gen.
Wenn Taubheit durch andere Gründe entsteht – z. B. durch Infektionen, Medikamente, Lärm oder Verletzungen – hilft die Gentherapie bisher nicht. Für diese Menschen bleibt das Cochlea-Implantat (CI) weiterhin die wichtigste Hörhilfe.
Auch ist die Therapie derzeit noch nicht offiziell zugelassen. Sie befindet sich in der klinischen Testphase. Alle bisherigen Behandlungen finden im Rahmen wissenschaftlicher Studien statt.
Risiken und Nebenwirkungen
Die bisherigen Ergebnisse zeigen keine schweren Nebenwirkungen. Dennoch sind Langzeitfolgen noch nicht vollständig bekannt. Forscher beobachten die Patientinnen und Patienten über mehrere Jahre, um mögliche Spätwirkungen zu erkennen.
Zudem ist die Behandlung technisch anspruchsvoll und teuer. Es wird noch einige Jahre dauern, bis sie allen Betroffenen zur Verfügung stehen kann.
Blick in die Zukunft
Die Gentherapie gegen OTOF-Defekte ist nur der Anfang. Forscher planen bereits Studien zu weiteren Genen, die häufig bei Hörverlust beteiligt sind – etwa GJB2, TMC1 oder MYO15A. Diese Gene spielen eine zentrale Rolle bei der Funktion der Haarzellen im Innenohr. Langfristig hoffen Wissenschaftler, dass Gentherapien auch bei häufigeren Formen von Schwerhörigkeit eingesetzt werden können.
Bedeutung für die Gehörlosen-Community
Die medizinischen Erfolge werfen wichtige ethische und gesellschaftliche Fragen auf. Die Gentherapie kann manchen Kindern das Hören ermöglichen, sie verändert jedoch nicht die kulturelle Bedeutung der Gehörlosigkeit. Viele Menschen aus der Deaf-Community betonen, dass Gehörlosigkeit kein Mangel ist, sondern eine eigene Sprache, Kultur und Identität hat.
Die Gentherapie ist daher eine Option, keine Pflicht. Jede Familie und jede betroffene Person muss selbst entscheiden, ob sie diese Behandlung möchte. Offenheit, Aufklärung und Respekt gegenüber der Vielfalt in der Gehörlosengemeinschaft bleiben entscheidend.
Fazit: Eine neue Ära der Hörmedizin
Die Gentherapie ist der größte medizinische Fortschritt in der Geschichte der Hörforschung. Zum ersten Mal kann angeborene Gehörlosigkeit an ihrer genetischen Ursache behandelt werden. Kinder, die nie gehört haben, können dank dieser Technologie erstmals Sprache und Klänge wahrnehmen.
Doch trotz aller Begeisterung bleibt Vorsicht geboten: Die Methode befindet sich noch im Versuchsstadium, viele Fragen zu Kosten, Zugang und Ethik sind offen.
Für die Zukunft gilt: Gentherapie kann eine medizinische Chance sein – aber Gehörlosigkeit bleibt ein Teil der menschlichen Vielfalt, den es zu respektieren und zu schützen gilt.

