Ein Ausschuss der Vereinten Nationen (UN) hat im Jahr 2023 die Europäische Union (EU) überprüft. Dabei ging es um die Frage: Wie gut setzt die EU die Rechte von Menschen mit Behinderung um? Grundlage ist die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Diese Konvention haben fast alle Länder der Welt unterzeichnet – auch alle EU-Staaten. Die Konvention verlangt, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt leben können.
Auch die EU-Deaf (eudeaf1985) – der europäische Gehörlosenverband – hat bei dieser Prüfung mitgewirkt. Der Verband hat viele wichtige Forderungen eingebracht. Jetzt gibt es Empfehlungen des UN-Ausschusses an die EU. Einige dieser Vorschläge betreffen direkt die Lebenssituation von gehörlosen Menschen in Europa.
In diesem Artikel erklären wir:
– Welche Forderungen wurden gestellt?
– Was bedeuten sie für Gehörlose?
– Sind diese Vorschläge realistisch umsetzbar?
Gebärdensprachen als EU-Amtssprachen anerkennen
In der EU gibt es 29 nationale Gebärdensprachen – zum Beispiel die Deutsche Gebärdensprache (DGS), die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) oder die Französische Gebärdensprache (LSF). Der UN-Ausschuss schlägt vor, dass alle 29 Gebärdensprachen als EU-Amtssprachen anerkannt werden.
Was bedeutet das?
EU-Amtssprachen sind Sprachen, in denen offizielle Dokumente, Gesetze und Sitzungen der EU übersetzt und gehalten werden. Heute gibt es 24 Amtssprachen in der EU.
Ist das realistisch?
Die Anerkennung aller Gebärdensprachen als vollwertige Amtssprachen ist politisch und organisatorisch sehr schwierig. Es würde bedeuten, dass jede Sitzung und jedes Dokument in 29 zusätzlichen Sprachen übersetzt werden müsste. Das wäre sehr teuer. Aber: Es wäre möglich, Gebärdensprachen als barrierefreie Arbeitssprachen in der EU anzuerkennen – zum Beispiel für bestimmte Treffen oder Online-Inhalte. Das wäre ein wichtiger Schritt für die Sichtbarkeit der Gebärdensprachen.
Gebärdensprache bei EU-Treffen verwenden dürfen
Der Vorschlag lautet: Gehörlose Menschen sollen bei EU-Treffen ihre Gebärdensprache nutzen dürfen – zum Beispiel bei Anhörungen, Bürgerdialogen oder Veranstaltungen.
Was bedeutet das?
Wenn Gehörlose zu EU-Veranstaltungen eingeladen werden, sollen sie automatisch das Recht auf Gebärdensprachdolmetschung haben. Sie sollen nicht extra darum bitten oder kämpfen müssen.
Ist das realistisch?
Ja, das ist leicht umsetzbar, wenn die EU verbindliche Regeln dafür schafft. Es gibt bereits technische Möglichkeiten und Dolmetscher:innen. Die EU muss aber sicherstellen, dass diese auch wirklich zur Verfügung stehen.
Anerkennung der Gehörlosenkultur in Europa
Die UN fordert, dass die EU die Gehörlosenkultur als Teil der kulturellen Vielfalt Europas anerkennt. Dazu gehören Gebärdensprache, Geschichte, Werte und soziale Strukturen der Gehörlosengemeinschaft.
Was bedeutet das?
Die Gehörlosenkultur wäre dann vergleichbar mit anderen kulturellen Minderheiten – zum Beispiel den Roma oder den Bretonen. Das könnte zu mehr Schutz, Förderung und Projekten führen.
Ist das realistisch?
Ja, das ist möglich. Die EU hat schon Erfahrung mit dem Schutz von Minderheitenkulturen. Jetzt müsste sie offiziell sagen: Auch die Gehörlosenkultur gehört dazu.
Pflicht für Gebärdensprachdolmetschung bei EU-Videos
Die Empfehlung lautet: Alle audiovisuellen Inhalte der EU sollen verpflichtend mit Gebärdensprache versehen werden.
Was bedeutet das?
Alle Videos, Livestreams, Infofilme und Nachrichten der EU sollen eine Gebärdensprachdolmetschung enthalten – zusätzlich zu Untertiteln.
Ist das realistisch?
Technisch ja, aber es ist mit Aufwand verbunden. Es braucht mehr Dolmetscher:innen, klare Planungen und genug Budget. Eine Möglichkeit wäre, zuerst mit wichtigen Inhalten wie politischen Entscheidungen oder Corona-Infos anzufangen und das Angebot nach und nach auszubauen.
Notruf 112 soll barrierefrei werden
Die UN fordert, dass der Notruf 112 überall in Europa auch per Video-Dolmetschung oder Textchat erreichbar ist – zum Beispiel bei Polizei, Feuerwehr oder Rettung.
Was bedeutet das?
Gehörlose sollen bei einem Notfall direkt Hilfe holen können, ohne Umwege über hörende Dritte oder unsichere Apps.
Ist das realistisch?
Ja, einige Länder – darunter Österreich und Deutschland – haben bereits Apps oder Lösungen (z. B. nora-App, DEC112). Jetzt geht es darum, diese Systeme EU-weit zu vernetzen und verbindlich zu machen.
Mehr Daten zu Behinderung, Herkunft und Geschlecht
Die UN empfiehlt der EU, genauere Daten über Menschen mit Behinderung zu sammeln – z. B. wie viele Frauen, Migrant:innen oder Gehörlose betroffen sind.
Warum ist das wichtig?
Nur mit guten Daten kann die EU besser planen, fördern und Barrieren abbauen. Auch Diskriminierung kann so gezielter bekämpft werden.
Ist das realistisch?
Ja, aber es ist sensibel. Es müssen klare Datenschutzregeln gelten und die Betroffenen müssen einverstanden sein.
Einheitlicher EU-Behindertenausweis
Die Forderung lautet: Ein EU-weiter Behindertenausweis, der in allen Ländern gültig ist.
Was bedeutet das?
Wer z. B. in Deutschland einen Schwerbehindertenausweis hat, soll auch in Frankreich oder Italien Vergünstigungen und Unterstützung bekommen – ohne neue Anträge.
Ist das realistisch?
Ja! Die EU-Kommission arbeitet bereits daran. Der Ausweis könnte 2025 oder 2026 eingeführt werden. In Zukunft könnten auch Arbeitsrechte oder Assistenzdienste europaweit gelten.
Fazit: Kleine Schritte, große Wirkung
Viele der Vorschläge an die EU sind sinnvoll und umsetzbar – manche sofort, andere in Etappen. Die Anerkennung der Gebärdensprache, mehr barrierefreie Inhalte, ein sicherer Notruf oder ein EU-weiter Ausweis wären große Fortschritte für Gehörlose in Europa.
Aber damit das geschieht, braucht es Druck von unten. Gehörlosenverbände wie EUDeaf, ÖGLB oder Deaf24 müssen weiterhin laut und sichtbar sein. Auch die Unterstützung der breiten Gesellschaft ist wichtig. Denn: Barrierefreiheit nützt allen.
Video: Ein Beitrag geteilt von ÖGLB – Österr. Gehörlosenbund (@oeglb.at)
Bild: Pixabay

